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20 Jahre polenmARkT. Eine persönliche Rückschau von Alexander Pehlemann (Zonic), 2017

Runde Jubiläen haben einen gewissen Zwangscharakter. Durch Dezimalfolgen herausgerissen aus dem nach vorn gerichteten Ablauf, muss Rückschau betrieben, Bilanz gezogen und Rechenschaft abgelegt werden, für sich wie für die jeweilige Öffentlichkeit. In diesem Fall, da ich aufgerufen bin, Bilanz für ein in wechselnden Kollektiven gestaltetes Festival zu ziehen, das eine Vielfalt an Sparten und Genres abdeckt, kann dies im gegebenen Umfang nur radikal subjektiv sein. Da meine ein Part vor allem beim Musikprogramm lag, ist es zudem eine Art Soundtrack. In einer besseren, vor allem besser geförderten Kulturwelt, wäre dies am besten der Begleittext für eine Compilation mit allen Acts. Das Mixtape dazu kann man sich heute online auch selbst zusammenstellen.

Der polenmARkT kam, zumindest aus meiner Perspektive, natürlich nicht aus dem Nichts (wenn auch in ein solches: die Kultur des Nachbarlandes wurde zuvor praktisch nicht wahrgenommen. In meinem Fall ging der Weg nach Initiationen zu DDR-Zeiten (polnischer Punk im DDR-Jugendradio, während gleichzeitig der legendäre erste Polenmarkt in Westberlin, nahe des heutigen Potsdamer Platzes, im verödeten Mauerhinterland entstand) über Fahrten zu den realen Polenmärkten, wie sie sich jenseits der ehemaligen Oder-Neiße-Friedensgrenze überall fanden. Allerdings zog es uns bereits früh über den schmalen grenznahen Ramschstreifen hinaus, hinein ins Zentrum von Szczecin, zum Rock´n´Roller-Shop nahe des Stadttores Brama Portowa. Dieser bot in einem kleinen Keller legale wie raubkopierte Kassetten, T-Shirts und Accessoires an. Hinter ihm standen aber auch die Macher eines Vertriebs diverser  Labels sowie des Fanzines Garaz. Konkret: Maciej Kempinski und Dzidek Jodko. Besonders Maciej, der als ehemaliger Flüchtling Deutsch sprach, wurde ein enger Freund und bald auch zu einem Partner. Ohne ihn, zu dem der Kontakt Ende der 2000er tragisch abriss, hätten wir nie das hohe Musiklevel im polenmARkT erreicht. Ihm ist dieser Text gewidmet, wo immer er auch sein mag.

Dank ihm landeten wir in Szczecin, u.a. bei den polski punky Reggae-Vorreitern Izrael oder der Kolabo-Night mit DezerterBakshish oder Post Regiment, sowie den lokalen Helden Kolaboranci, deren funky Hardcore 1994 im Klex zu hören war. Sascha Fricke (später u.a. Mitbetreiber des Literaturmagazins Wiecker Bote und Mitbegründer des Koeppenhauses) startete mit Hilfe Maciejs den (erfolglosen) Versandhandel Happy Noise mit polnischen Subkultur-Waren und lancierte im Austausch, dass die Rostocker Punkband Dritte Wahl bei Rock´n´Roller auf Kassette erschien. Maciej arrangierte zudem, dass 1995 beim Pariser-Festival die Metal-Dubheads von Będzie Dobrze anstelle der aufgelösten Izrael spielten, welche reanimiert später Greifswald zum polenmARkT 2007 zum Tanzen brachten, und dass die Mystic-Punks Armia im Jahr darauf die Klosterruine Eldena rockten. Für ihre zweifache Wiederkehr zum polenmARkT sorgte ich: Ein wenig Lieblingssound-Kuratorenwillkür musste schon sein. Mit ihrer Show stieg ich 2000 überhaupt erst in das Festival ein, welches sich aus den seit 1997 von Karin Ritthaler und Matthes Klemme initiierten Polnischen Kulturtagen entwickelt hatte. Die ersten Jahrgänge waren noch an mir vorbeigegangen. Mit Mołr Drammaz, die in der Stadtbibliothek eine Lesung rahmten, fing bald eine weitere Mehrfachgast-Beziehung an. Wojtek Kucharczyk, der als eine Hauptfigur der polnischen experimentellen Elektronik in unterschiedlichsten Konstellationen spielte: sei es bei der Inszenierung des deutsch-polnischen Hörstück „TerriTerrorTorium“ zusammen mit dem Hamburger Felix Kubin (bei dessen Höhepunkt die Hymnen beider Länder in- und übereinander geblendet wurden), mit den Verstörsounds streuenden Acts seines Labels Mik Musik oder zuletzt 2016 als Techno-Performer (lost in Klex).

Es deutet sich vielleicht bereits an, welche Prämisse hierbei waltete: Vielfalt auf höchstem Niveau, bei größtmöglichem Abstand zu Mainstream und Klischee (als dessen worst-case-imagination die kleinstädtische Kinder-Folktanzgruppe herhielt).

Entsprechend dieser leicht dogmatischen Vorgabe reihten sich Jahr für Jahr aneinander: Jazz aller Stile (Adam Pierończyk, Aga Zaryan, Miłość, Contemporary Noise Quintet, Pink Freud, Mikrokolektyw, Leszek Możdżer, kIRk, Atom String Quartet, Robert Piotrowicz + Anna Zaradny …), teils mit jüdischem Klangerbe (Kroke, Shofar, Cukunft, Oles Brothers + Jorgos Skolias, Bester Quartet …), Reggae (Izrael, Bakshish, Ras Luta, Junior Stress, Mesajah, Vavamuffin, Joint Venture Soundsystem …), Worldmusic-Grooves (Psio Krew, Bubliczki, Masala …), Punk (WC, Analogs, Dezerter, Włochaty, Armia, Moskwa …, auch als Retro-Folk: R.U.T.A.), allerlei, nicht in bestimmte Schubladen passende Acts wie die Akkordeon-Maestros Motion Trio, die Spassvögel Mitch & Mitch sowie die Heavy Jewsurf-Band Alte Zachen oder die Jazz Post-Rocker von Voo Voo, elektronische Live-Sounds mit Jacaszek + Mikołaj Trzaska, RSS Boys, Lautbild oder We Will Fail, sowie last but not least DJs wie The Very Polish Cut-Outs, Soul Service, der Exil-Ukrainer und Russendisko-Mitmacher Yuriy Gurzhy oder DJ Calvin,wobei nicht alle der folgenden Acts durch meine Hände gingen. DJ Calvin kuratierte das Szczeciner Boogiebrain Festival, mit dem wir ebenso kooperierten wie mit dem berühmten Jüdischen Festival in Krakau. Soweit in Ansätzen zur Bilanz. Tusch!

Von den vielen Kooperationen seien nur zwei weitere erwähnt: legendär wurde ein deutsch-polnischer Dancehall-Clash mit diversen MCs und Sängern im Rahmen des GrIStuF-Festivals; und zu 20 Jahren Al-Haca Soundsystem trat der dabei maßgebliche Leipziger Reggae-Produzent Pionear mit polnischen Gästen am Mic auf, nachdem wir bereits der Pommerania einen deutsch-polnischen Reggae&Hip Hop-Clash untergejubelt hatten.

Was mir bei alldem als vielleicht schönster, weil skurrilster Abend in Erinnerung ist, war eigentlich ein Ersatz-Event. Dabei inszenierten wir Texte eines, aus nicht mehr nachzuvollziehenden Gründen nicht kommenden, schwulen Skandal-Autoren einfach selbst. Anschließend warfen sich fast alle, unter großzügigem Zugriff auf den Theater-Fundus, mitten in der Woche in den schrillsten Fummel des anderen Geschlechts (inklusive intensivster Schminkmaske und schrägen Perücken) und feierten eine irre Drag-Disco-Party Was nicht zuletzt natürlich auch als politisches Statement getanzt wurde.

Strukturell wurden erst durch die nicht unumstrittene Vereinsgründung (man entfernte sich ein Stück von der Universität und in die städtische Öffentlichkeit hinein) Förderungen möglich, mit denen es gelang, polenmARkT als das vielleicht spannendste Festival polnischer Kultur im ganzen deutschen Land zu etablieren – ohne dass dies allerdings bisher überregional wahrgenommen worden wäre. Das hohe Niveau zu halten, welches stets mühsam von einer erstaunlich klein bleibenden Gruppe erarbeitet wird, ist mit den Jahren zunehmend komplizierter geworden: war es eine Zeit lang das weibliche Kernteam, Agata Wieśniewska-Schmidt, Kati Mattutat und Anett Hauswald, hält nach einigem Umbruch heute vor allem Marek Fiałek mühsam die Fahne hoch. Die außergewöhnliche Optik der Plakate wurde lange von Gertrud Fahr gestaltet.

Als ein Resultat dieser zwei Jahrzehnte mag es zwar einerseits eine größere Selbstverständlichkeit in der Wahrnehmung der polnischen Kultur geben, andererseits scheint die Neugier teilweise (eventuell durch Beschaffung digitaler Vorabinformationen) gesunken zu sein. Vor allem bei vermeintlich fordernden Formen, die zuletzt oft nur sehr exklusiv offeriert werden konnten. Aber meine Beobachtung von Greifswalder Potentialen ist seit meinem Wegzug eher aus der Ferne. Mit einem, zusehends schwindenden Teil des Publikums ist man gemeinsam gealtert, während in größerer Beschleunigung die Studentengenerationen wechseln, von denen man hoffen darf, wenigstens eine diesbezügliche Offenheit mit auf den schnell abzweigenden Weg gegeben zu haben. Und das auch weiter tun zu können.

Eine Wunschvorstellung meinerseits wäre eine umfassendere Osterweiterung, intensiver in die Nachbarländer Polens zu schauen, die Grenzüberschreitung mit Polen als Transitraum gen Osten und Süden voranzutreiben und dortige Positionen zu Polen und umgekehrt die polnische Wahrnehmung seiner Anrainer aufzunehmen. Aber dafür müsste die Organisation wachsen, was nicht zuletzt höhere Unterstützung erfordern würde: endlich dauerhaft infrastrukturell. Die veränderte politische Lage macht ja allzu drohend deutlich, dass das gegenseitige Verständnis, welches nur auf Kenntnis von Geschichte und Kultur beruhen kann, längst nicht mehr oder erneut nicht mehr gegeben ist. Insofern gibt es weiterhin viel zu tun – und hoffentlich auch zu tanzen. Möge die punky-funky-groovende-wie-politisch-reflektierende-polenmARkT-Polonaise noch lange weiterziehen!

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